
Claudia Braunstein möchte sich nicht ihr Leben lang von Kartoffelbrei ernähren. Hier sitzt sie in einem ihrer Lieblingscafés, dem Sacher.
Schnitzel, Obst, Gemüse: Viele Menschen können Lebensmittel in ihrer ursprünglichen Form nicht zu sich nehmen. Claudia Braunstein setzt sich für eine „barrierefreie“ Küche ein – und kreiert sie selber.
Wenn Claudia Braunstein im Restaurant essen geht, lautet der erste Satz dem Kellner gegenüber nicht etwa: „Was können Sie uns empfehlen?“, sondern: „Hallo, bitte wundern Sie sich nicht, dass ich so spreche wie ich spreche, aber ich hatte Krebs. Mir fehlt ein Stück meiner Zunge, geistig fehlt mir nichts.“ Es ist die Erfahrung, die sie das gelehrt hat. Vor vier Jahren erkrankte die heute 52-Jährige an einem Karzinom im Mundhöhlenbereich – auf gut Deutsch Zungenkrebs. Bei der Diagnose sei sie seltsam ruhig gewesen, erzählt sie heute. „Ich wollte einfach nur wissen, was los ist und was ich tun kann, habe alles rational gesehen. Ich habe nicht geahnt, was für eine Tortur da auf mich zukam.“
Ein Stück ihres Unterarms sollte entfernt werden, um ein das in der Zunge zu ersetzen, das herausgeschnitten werden musste. Ein Luftröhrenschnitt sollten angesetzt und der gesamte Hals aufgemacht werden, um Lymphknoten zu entfernen. „Ich habe mir nach der Prognose draußen aus dem Krankenhaus eine Zigarette angezündet und mir überlegt, wie ich das nun meiner Familie beibringe“, erzählt Braunstein mit Ironie in der Stimme, der jedoch keineswegs bitter klingt. Denn traurig, ängstlich oder gar panisch, das sei sie nie gewesen. Nach einer harten Zeit geht es der gebürtigen Halleinerin nun wieder gut – doch die Schäden werden bleiben.
Braunstein kann nicht mehr so sprechen, wie man es als „normal“ bezeichnet. Es kostet sie Mühe, ihre Worte klar zu artikulieren. Das ist die erste Tragödie für eine Frau, die kaum etwas so schätzt, wie gute Konversation und umgeben von Menschen zu sein. Die zweite: Sie wird vielleicht nie wieder etwas Festes beißen können. Egal ob Wiener Schnitzel, Karotte oder Apfel – nichts davon kann Braunstein in seiner ursprünglichen Form zu sich nehmen. Für die Dame, die in Haubenlokalen ein und aus geht und gutes Essen liebt, war von Anfang an klar: Sich künftig von Kartoffelbrei und zermatschtem Allerlei zu ernähren war keine Option.
Der zweite Satz, nachdem sich Braunstein im Lokal erklärt hat, lautet also: „Was haben Sie für jemanden wie mich zu Essen da?“ Die Antwort sei oft ernüchternd. Mehr und mehr wurde der 52-Jährigen klar: Hier hatte sie eine Marktlücke aufgestöbert. „Es gibt viele die unter Kau- und Schluckbeschwerden leiden. Menschen mit Alzheimer, Parkinson, oder Problemen mit Kiefer oder Zähnen.“ Mit Hilfe der eigenen Kochbegeisterung und viel Fantasie entwickelte sie nach und nach immer mehr Rezepte für sogenannte „barrierefreie“ Gerichte.
Was sie zunächst in Form eines Kochbuches in die Welt tragen wollte, beschloss sie schließlich, online zu stellen. Der Blog „Geschmeidige Köstlichkeiten“ war geboren. Regelmäßig lichtet Braunstein ihre Speisen ab, schreibt Rezepte auf und veröffentlicht das Ganze auf ihrer Plattform. Doch damit nicht genug. In ihrer eigens gegründeten Selbsthilfegruppe unterstützt sie andere, die ihr Schicksal teilen, begleitet auf Arztterminen, hilft beim Pensionsantrag und hat ein offenes Ohr für Kummer. Vor ihrer Erkrankung führte Braunstein mit ihrem Mann einen Modegroßhandel – heute dreht sich ihr ganzes Leben um das, was sie durchlebt hat.
„Ich möchte einerseits verarbeiten, was mir passiert ist und andererseits anderen helfen, sie im besten Fall schützen.“ Irritiert sei sie gewesen, als eine von ihr geplante Kampagne zur Prävention von Mundhöhlenkrebs von verschiedenen Seiten abgelehnt worden sei mit dem Argument, „das sei ja nicht so populär“. Sexy oder nicht – mit zwei Wiener Medizinern plant Braunstein bald ein Buch auf den Markt zu bringen, das sich rundum das Thema Kau- und Schluckbeschwerden drehen wird. Randvoll mit ihren Rezepten.
Parallel zu ihrem Blog nutzt Braunstein weitere Kanäle im Internet, um mit Menschen in Kontakt zu treten – nicht nur mit Leidensgenossen. „Mir ist auch die Prävention enorm wichtig, es gibt viel, was man tun kann, um Krebs und Zungenkrebs zu vermeiden.“ Neben gängigen Tipps wie Bewegung, nicht zu rauchen und sich gesund zu ernähren, spielt beispielsweise auch die Zahnhygiene eine entscheidende Rolle. „Dazu zählt regelmäßig zum Zahnarzt zu gehen – selbst dann, wenn nichts weh tut“, so Braunstein. Am meisten freut sich die 52-Jährige übrigens darüber, dass sie inzwischen Oma ist: „Ich bin so froh, dass ich das dank meiner Heilung erleben darf.“
Claudia’s Blog “Geschmeidige Köstlichkeiten”: http://www.geschmeidigekoestlichkeiten.at